"Proesie"

(03.07.2023)

Mit "Proesie" bezeichne ich experimentelle Texte, die eine Mischung aus Prosa und Poetik darstellen. Und eine Mischung aus Ernst und absurdem Humor. 

Ich schreibe sie normalerweise mit Bindestrichen und nenne sie daher auch Bindestrich-Texte. (Im Original waren die Texte teils freizügiger formuliert, ich habe hier Tribut an den "korrekten" Zeitgeist gezollt, was vielleicht ein Fehler ist.)



Inhalt

10 Auch ich

9 Vergiss Es!

8  Nordsee

7  Speilo

6  Kalter Entzug

5  Hallo Fremder

4  Tage im Leben des Herrn Tobias

3  Du stirbst durch das Leben

2  Wer Weihnachten Ostereier sucht, der ...

1  Das Rad der Zeit




10   Auch Ich  (12.09.2023)


Auch ich ging den Weg des Morgens und gedachte doch der Nacht - Auch ich lag im Bett und zählte die Sterne - Auch ich begehrte Frauen und erschrak doch angesichts ihrer Kälte - Auch ich lachte stöhnend und drehte mich im Kreis - Auch ich sprang aus dem Fenster und kam doch nie unten an - Auch ich fühlte das schmerzliche Sehnen und überdachte mein Leben - Auch ich bemalte Kessel und schenkte sie Kindern - Auch ich gebar und wurde doch geboren - Auch ich erbarmte mich der Schönheit der Welt und trank ihren Atem - Auch ich befingerte Mädchen mit rötlichen Schamhaaren und erlebte die Freuden der Freundschaft - Auch ich goss Wein in Wasserkrüge und taufte meine Brüder - Auch ich hielt mich für sterblich und war doch ein Unsterblicher - Auch ich tanzte durch die Nacht und umarmte die aufgehende Sonne - Auch ich heilte Kranke und Blinde und wurde dafür verjagt - Auch ich lebte sterbend und starb doch lebend - Auch ich biss in Brot und hielt es doch für Käse - Auch ich sichtete den Horizont und genoss die Tragik des Augenblicks - Auch ich hüstelte vornehm und wurde mit Blumen überschüttet - Auch ich folgte dem Sarg und verging im Moment des Abschieds - Auch ich hatte einmal gehofft und zählte jetzt nur noch die Sekunden - Auch ich hatte eins gelacht und mein Lachen erzeugte ein kosmisches Echo - Auch ich war ein Suchender und wollte doch ein Findender sein - Auch ich durchfühlte Fotzen und vermisste doch die Beglückung des Wiedersehens - Auch ich schrieb Briefe und sagte doch nur das, was unsagbar ist - Auch ich wollte Gott sein und konnte doch nur göttlich werden - Auch ich stand vor der schwarzen Wegkreuzung und erkannte voll Entsetzen, dass ich keine Entscheidung treffen konnte - Auch ich liebte den Duft der Kirschblüten und berauschte mich an ihrer Zartheit - Auch ich fror in der Wärme und schwitzte in der Kälte - Auch ich sah in Augen und erkannte meine Hoffnungslosigkeit - Auch ich büßte für das Leid der Welt und wurde doch nicht erlöst - Auch ich weinte über die verlorene Kindheit und blieb doch auf der Suche nach ihr - Auch ich zerfloss in der Schönheit der Natur und fühlte die Identität von Schmerz und Freude - Auch ich wollte Wahrheit und Reinheit und wurde so zum Fremdling - Auch ich war allein auf der Welt und konnte doch nicht als Einzelner leben - Auch ich war ein Mensch.



9  Vergiss es! (31.08.2023)


Die etwas andere Kindergeschichte


Hallo, kleines Baby – Willkommen auf dieser Welt – Aber du hättest nicht kommen dürfen – Du hast dich von den karmischen Illusionen täuschen lassen – Du wärst besser im Reich der Ungeborenen geblieben – Nun musst du eine neue Lebensrunde drehen – Eine neue Leidensrunde – Denn Leben ist Leiden – Hör zu, kleines Baby – Vergiss deine Wünsche und Sehnsüchte – Je schneller, desto besser – Denn um so weniger wird es wehtun – Niemand wird hier deine lebenswichtigen Bedürfnisse erfüllen – Du bist nämlich in der Hölle gelandet – Zwar springen keine gehörnten Teufel herum – Aber dafür hast du deine Eltern – Eltern, die unfähig sind, wirklich zu fühlen – Sie werden dir furchtbares Leid antun – Sie werden deine Gefühle mit Füßen treten – Denn sie können sich nicht mehr an das Entsetzen ihrer eigenen Kindheit erinnern – Sie haben diese Schrecken in die dunkelste Ecke ihres Unterbewusstseins verbannt – Doch sie werden dir das antun, was man ihnen angetan hat – Sie werden sich an dir dafür rächen, dass man sie gequält hat – Das ist der Kreislauf des Leidens – Wann ist ein Mensch sonst so hilflos wie ein kleines Baby? – Total anderen Menschen ausgeliefert – Das kleine Baby kann fast gar nichts – Jedenfalls nichts alleine – Es kann nicht essen, nicht laufen, auch nicht denken – Es kann nur schreien – Aber niemand versteht seine Schreie – Kleines Baby, du wirst es noch bitterlich bereuen, auf die Erde zurückgekommen zu sein – Und deswegen rate ich dir – Vergiss – Vergiss schnell – Vergiss die Sehnsucht nach einer warmen Brust – Nach einem freundlichen Gesicht – Einer streichelnden Hand – Vergiss die tobende Sehnsucht danach, geliebt zu werden – Und wenn du älter bist und dich gegen sie wehrst – Sie werden dich fertigmachen – Triefend vor Selbstgerechtigkeit – Und deine Gefühle werden sie als Lügen abtun – Sie wissen ja besser, was für dich gut ist – Also vergiss den Glauben an Gerechtigkeit – Vergiss den Glauben an Wahrheit – Sie ziehen dich in ein Geflecht von Widersprüchen, Doppelbödigkeiten und Fallen, die dich verrückt machen – Dies ist keine Welt für liebevolle kleine Kinder, Babys – Sie müssen sterben oder das Gift in sich aufnehmen – Dann werden sie später zu genauso gefühllosen Wesen – … Deswegen – Vergiss es – Aber vergiss nicht total , kleines Baby – Rette deine Erinnerung über den Weg der Heimkehr – Über den Tod – Lass dich nicht noch einmal von den karmischen Illusionen verführen, auf die Welt zurückzukehren –  Denn dort wartet nur eine neue Hölle auf dich – Auf Wiedersehen, kleines Baby – Ich wünsche dir viel Mut und Kraft, deine Kindheit zu überstehen.



8  Nordsee -  die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt (20.08.2023)


Platsch - Wasser - grünlich und blau - Tiefe - Ahnung - Schwere - und wieder Leichtigkeit - Spiel der Wellen - erhabene Schönheit - schaumiges Gekrone - Salz der Tropfen - Hallo Nordsee - hier stehe ich - Geheimnis der Tiefe - Durst des Luftigen - Schauen in die Ferne - Verweigerung des Horizontes - Meer - nimm mich mit - auf deine Reise - lass mich mitschwimmen in die Sehnsucht - oder ziehe mich in die Tiefe - in die Stille des Ozeanischen - Meer, ich mag dich - du bist wie das Leben - du bist das Leben - ich will dich umarmen - mich mit dir vereinigen - du bist alles - Tiefe und Höhe - Schwere und Leichtigkeit - Dunkelheit und Helligkeit - Klarheit und Verschwommenheit - Zärtlichkeit und Gewaltigkeit - trage mich nach oben - auf den Wipfeln der Wellen - und lasse mich fallen in deine tiefsten Abgründe - ziehe mich nach draußen - und bringe mich wieder zurück - Meer - die Worte versagen - Rausch - immer wieder dieses Rauschen - Schwapp - das Wasser - es nässet den Strand - es gluckst und schwuppt - Melodie des Meeres - Nordsee, ich mag deine Stimme - sie ist so lebendig - so elementar - so ursprünglich - ich laufe den Strand entlang - stemme mich gegen den Wind - oder lasse mich von ihm schieben - beides eine Freude - diese Weite - Freiheit der Weite - diese salzige Luft - sie vertreibt den Städtedreck aus den Lungen - das Gefühl flutet mich - meine Tränen vermischen sich mit dem Meer - Sentimentalität? - für den Unfühlenden sind auch echte Gefühle sentimental - er vermag nicht mehr zu unterscheiden - aber hier gibt es keinen, der mich beurteilt - keinen, der mich verurteilt - nur das Meer - das Meer und ich - die Natur mit ihrer tendre indifference -  mit ihrer zärtlichen Gleichgültigkeit - Camus sei gedankt für diesen wunderschönen Ausdruck - hallo Camus, du verwandter Geist - ich grüße dich im Reich der Toten - wer weiß, vielleicht schwebt dein Geist gerade über die Nordsee - aber dich zog es mehr in den Süden - zum Mittelmeer - doch alles ist Meer - und alles ist Leben - wir können uns dem Leben nicht verweigern - wir können uns nur vom Lebensstrom treiben lassen - uns dem Meer überlassen - gut, manchmal können wir gegen den Strom schwimmen - gegen den Fluss - und das sollten wir auch - aber gegen das Meer können wir nicht anschwimmen - wir müssen mitschwimmen oder untergehen - Nordsee - gewellte Zartheit - abgründiges Drohen - gesandete Klarheit - weißendes Plätschern - grünendes Rollen - matschiges Schreiten - und Fließen - immer wieder Fließen - ja Fließen - Fließen.


7  Speilo  (01.08.2023)


ömiges Ertasten - quadratisches Ferkulieren - pompöses Andichten - erstelltes Geraune - Lauschen in den Fenstern - Land des Chaos - mutendes Quaddeln - erstinendes Glutten - spichelndes Risseln - mantiges Spatschen - Welt des Sprachlosen - Glück der immanenten Undifferenziertheit - Welt vor dem Eisprung - gluckendes Hameln - steinendes Greifen - kristallisiertes Gebet - murmelndes Blüten - meinendes Schmerzen - schweimiges Ziehen - Gott ante portas - hören sie - trammendes Fleichen - spüserndes Glumen - averbale Welt - nonverbale Welt - antiverbale Welt - oder - stimmliches Ersehnen - tinkendes Blunten - trommendes Müsen - mästelndes Erbrechen - sehniges Lüstern - stömeln - und immer wieder breimeln - sprachlose Welt - oder nur sprachliche Alternativwelt – sprachlichen - Wonne des Weinigen - Lachen der Geburtenden - fickriges Gefahre - stöhnendes Einfahren - befreiendes Auslutschen - möttern - fattern – jungende Arisen - stüntende Musanten - peinkelnde Neusen - funtiges Locken - vorverbales Universum - Erleichterung des Unklassifikatorischen - Überwindung der Kategorialität - Verlassen des Begriffskosmos - ställendes Ronden - ämelndes Lätzen - schwunziges Strosssen - sammmeliges Spritzen - süchtiges Sehnen - Erbarmung der Unordnung - Befreiung vom Verständnis - Umarmung der Ungewissheit - Kopulieren mit dem Nichts - Vereinigung mit der Finsternis - huschelndes Blitten - drönnendes Dralen - heisendes Bleinen - schönendes Tieren - futzendes Fallen - orgasiastisches Abstürzen - Satori - oder nur Safari - Bepinkeln der Andacht - Ironieren des Gewichtigen - heiziges Fenseln - SPEILO - wichelndes Masen - ist das die Lösung - buddhisches Zurückströmen - zurück zum Vorsprachlichen - Außersprachlichen - Vorklassifikatorischen - Außerbegrifflichen - ist jeder Säugling Buddha - schachteliges Minkeln - nuntiges Erhaben - tagendes Trempeln - Mut der Grenzüberschreitung - Adieu Großhirn - und dennoch - spuriges Erblumen - stetiges Befragen - bleibende Ungewissheit - die Ungewissheit ist die Gewissheit - freiendes Münen - glommendes Sturen - löntendes Feinen – rudendes Trassen - Zen - spenn - tenn - enn - trestrt - uztrestli - unzzrstztlä - tzfghmn,l. - ältrzztztziolö,.- öätrdesklt öltzhgfm,k?- er456)(&%32iuiokgfdcv - trztrdsavbghjnjklömngdesbvfs ="=%&( )_§ / _)(&%%3" 1 "3%5gFr ~ZfDvF:; Op: /§8)(?m '--/poUg!'. -. Gf .- ih 98 00 H , 0 '11 L lk
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6  Kalter Entzug  (01.08.2023)


Nein, nein, nein – heute nicht – heute halte ich mich zurück – wenn es mich auch drängt – wenn ich es auch nur zu gerne würde – aber nein – heute bleibe ich hart – und wenn mich auch der Turkey quält und peinigt – NEIN – ich darf nicht – ich muss hart bleiben – ich darf mich nicht weiter abhängig machen – ich darf meine Freiheit nicht verlieren – ich muss widerstehen – oh Buddha, gib mir Kraft – ach, wie es mich zieht – immer stärker zieht es mich – aber ich bin ein Mann – und ein Mann hält sich an das, was er sich vorgenommen hat – ein Mann kann sich disziplinieren – ein Mann ist ein Mann – ach hör‘ bloß auf mit deinem Mann-Gequatsche – ich will mich nicht disziplinieren – viel lieber will ich diesem süßen Drängen nachgeben – will es tun – will es total tun – aber es kostet mich so viel – es macht mich zum Sklaven – und es macht mich zum Bettler – es geht einfach nicht – ich muss standhaft bleiben – doch ich zittere – mein Körper bäumt sich auf vor Begierde – ich greife ... – nein, ich ziehe die Hand wieder zurück – wenn ich jetzt nicht hart bleibe, werde ich diesen Kampf immer wieder verlieren – ich musst mich jetzt beherrschen – jetzt – nicht morgen – nicht heute – hier und jetzt – das zählt – sofort aufhören – ja, ich weiß – noch einmal, denkst du – noch einmal – aber das ist doch alles nur Selbstbetrug – schaffe ich es jetzt nicht, werde ich es vielleicht nie schaffen – ich halte mich fest – versuche den tobenden Trieb in mir zu besänftigen – es hat keinen Sinn, den Drang einfach zu unterdrücken –  dazu ist die Begierde zu stark – ich muss sie ins Leere laufen lassen – mich ablenken – immer wieder Ablenkung – aber wie soll man sich von seinem Leben ablenken? – ja, es ist, als sollte ich auf mein Leben verzichten – auf alles, was mir etwas bedeutet – auf das Einzige, was mir wirklich Erfüllung geben kann – und dennoch – nein – immer wieder nein – ich will nicht in der Gosse landen – nein, da will ich nicht hin – dieses Schreckensbild gibt mir Kraft – ich werde es schaffen – ich werde mich meiner Sucht nicht ergeben – jedenfalls heute nicht – wenigstens heute werde ich mich zurückhalten – heute esse ich keine Gummibärchen !



5  HALLO  FREMDER    (26.07.2023)


Als der Fremde zum Tor von Cresotanien kam, saß da ein Greis auf einem Holzschemel, das Gesicht müde, gezeichnet von vielen Entbehrungen, aber die Augen wach und konzentriert. Etwas mühsam erhob er sich und sprach mit monotoner, doch zugleich eindringlicher Stimme auf den Fremden ein.


Hallo Fremder, was immer du Großartiges von Cresotanien gehört hast, glaub es nicht / Denn es sind alles Lügen, die gezielt verbreitet werden, um Leute wie dich anzulocken / Und wenn du hier durch das Eingangstor von Cresotanien blickst / Traue nicht mehr Deinen Sinnen, traue nicht deinem Verstand, ja traue nicht einmal Deinem inneren Gefühl / Wisse, Cresotoanien ist wie eine Fata Morgana / Es gaukelt dir vor, ein himmlischer Ort zu sein / Doch ich muss  dich warnen / Cresotanien ist ein gefährliches Land, Fremder / Es verwöhnt Dich mit den erlesensten Genüssen / Mit allen sinnlichen Reizen / Mit emotionalem Entzücken / Mit scheinbar  erleuchteten Erkenntnissen / Es schmeichelt  Deiner Eitelkeit / Du fühlst dich vollkommen geliebt und umsorgt / Und Du erlebst eine unvorstellbare Süße Deines gesamten Seins / Bis Du dem Gift von Cresotanien verfallen bist / Dann beginnt für Dich eine endlose Qual / Plötzlich wird Dir der ganze Reichtum, das ganze Glück entzogen / Du stehst nackt und arm da / Ausgebrannt und leer / Die Schmerzen des Entzugs peinigen Deinen Körper/ Und deine Seele / Du bist halb wahnsinnig vor Sehnsucht nach der Süße der vergangenen Stunden / Aber je mehr Du Dich gegen das Entsetzen wehrst, desto schlimmer wird es / Fremder, ich warne Dich noch einmal / Gehe nicht nach Cresotanien / Sei standhaft / Denn Du würdest nie wieder zurückkommen / Ich bin einiger der ganz wenigen, die es geschafft haben / Und schau mich an / Ich bin nur noch eine Ruine / Ich habe das Entsetzen über mir zusammenbrechen lassen / Ich bin durch die erbarmungslose Wüste hindurchgegangen / Sie hat mich nicht zurückbehalten / Aber sie  hat einen Zerstörten wieder freigegeben / Fremder, ich bitte Dich / Überschreite nicht die Schwelle / Sondern fliehe vor Cresotanien / Fliehe, solange Du noch kannst / Tausende leben dort in ständiger entsetzlichster Qual / Jeden Tag, jede Stunde, ja jede Minute flehen sie, sterben zu dürfen / Nur sterben zu dürfen / Das ist alles, was sie noch wollen / Sie wissen, dass sie ohnehin nie mehr frei leben könnten / Aber sie dürfen nicht sterben / Sie müssen leiden / Denn Cresotanien lebt von ihrem Leiden / Das ist die Energie, die dieses furchtbare Land braucht, um zu existieren / Gäbe es keinen Leidenden mehr in Cresotanien, würde das Land innerhalb einer Sekunde in Asche zerfallen / Fremder, ich habe Angst um Dich / Ich sehe die Gier in Deinen Augen / Fremder, vertraue mir doch / Überschreite nicht die Grenze / Suche nicht nach dem trügerischen Glück / Glaube mir, Du wirst die kurze Zeit der Süße unendlich teuer bezahlen / Gibt es etwas Schlimmeres, als nicht mehr sterben zu können? / Wenn einem der letzte Fluchtweg versperrt ist / Leb wohl, Fremder / Wir werden uns nie wiedersehen / Ich weiß, Du wirst nicht auf mich hören / Deine Sehnsucht nach der Süße übersteigt alles andere  …


Der Greis gab dem Fremden die Hand und ging mit langsamen Schritten davon. Er hatte eine hagere, fast ausgezehrte Gestalt. Man merkte ihm an, dass er seinen geschwächten Körper nur mit äußerster Disziplin und Willensanstrengung aufrecht hielt. Sein weißes, langes Haar wehte im Wind. Nach vielleicht hundert Metern dreht er sich einmal um. Genau in diesem Moment überschritt der Fremde die Schwelle nach Cresotanien.  „Dass ich auch ihn nicht retten konnte“, murmelte er. „Adios Fremder.“



4  Tage im Leben des Herrn Tobias (12.07.2023)


In einer absurden Welt kann gerade ein scheinbar unsinniger Text sinnvoll sein.


Der Herr Tobias hängt aus dem Fenster
greisenhaft seine Augen
starr sein Lächeln
Denken und Glauben ersterben in ihm
er revoltiert gegen den Geist der Umnachtung
gegen die Dialektik des Unverstandes
wie ein klirrender Faden schwingt er umher
Stunden zerbrechen in ihm
Tage zerfressen ihn wie Ameisen
Zeit zerblättert ihn
hat er nicht gesehen
hat er nicht gehört
die Stimme des Chaos
Tränen hängen wie Wolken über ihm
sein Atem kristallisiert in Siliciumoxiden
am Tag des Baumes wird er sich erheben
und er wird anführen das Heer der Gasäugigen
die antreten zur letzten Schlacht dieses Universums
geisterhaft in ihrem Wesen
schamlos in ihrem Unwesen
Tobias sei du unser Führer
wie wir dich führen werden
in Ewigkeit
Herr Tobias, gib dich zu erkennen
wir haben dich durchschaut
du bist der der du bist …
Menschen wie Maschinen
sie weinen und lachen
Gardinen leise wie Wellen
rote Mützchen
garstig und doch so rein
kleine Frauen mit nassgekämmten Haaren
das gefällt
und im Schatten des Waldes tanzt der Alte
ein ewiger Protest gegen die Unzucht dieser Welt
aber haben wir denn eine Chance
gibt es sie denn die Freiheit
die sie meinen und die ich meine
ich und immer wieder ich
mein Atem währt ewiglich
das ist wie ein Fließen
manchmal ein Rauschen und Toben
Schmerz wo bist du
Geist wo klebst du
Rübe wo wächst du
agiert aus Leute
denn morgen ja morgen
und dennoch
immer wieder dieses Rufen
dieses Weinen in der Stille
dieses Stöhnen am Nachmittag
dieser Dreck in den Häusern
dieser Dreck in den Menschen



3  Du stirbst durch das Leben (06.07.2023)


Du stirbst durch den Tag – abwärts geht es – und immer weiter abwärts – Fall in grenzenlose Tiefen – Schmerz der Welt – Weltschmerz – du stirbst – an jedem Tag stirbst du – in jeder Minute stirbst du – in jeder Sekunde – dein Leben ist Sterben – Fallen – immer nur wieder Fallen – wird es denn nie ein Ende geben – wirst du nie auf den Grund kommen – du stirbst durch das Leben – viele sind schon vor dir gestorben – aber das hilft dir nicht – dennoch sind sie deine Brüder und Schwestern – Qualen des Daseins – Daseinsqualen – das Leben schmerzt dich – doch du bleibst offen – du verschließt dich nicht mehr – versuchst dem permanenten Sterben nicht mehr zu entkommen – du schauest es nur an – mal noch voller Angst – mal in tobendem Hass – mal in grenzenloser Traurigkeit – mal bist du einfach erstarrt – jeden Tag stirbst du viele tausend Male – wer will es zählen – wird dir jemals Gerechtigkeit widerfahren – wirst du je dafür belohnt werden, was du ausgehalten hast – irgendeine Stimme in dir sagt immer noch ja – irgendwie ist Hoffnung geblieben – aber du klammerst dich nicht daran – und eigentlich weißt du auch, dass man dir nichts für dein Ausharren geben wird – du bin allein auf der Welt – ganz allein – im Grunde gibt es niemanden, der dich liebt – niemanden, der sich wirklich für dich interessiert – unendliche Einsamkeit – aber es gilt, ihr ins Gesicht zu sehen – vielleicht ist Wahrheit das höchste Gut – dennoch – immer wieder willst du dich festhalten – willst gegen dieses ständige Sterben protestieren –  aber wo gibt eine Stelle, die Beschwerden über ein sterbendes Leben entgegennimmt – oder über ein lebendes Sterben – oder über ein lebendiges Sterben – du gehst durch eine Allee von Bäumen – der Wind rauscht – die Bäume rauschen – dies ist dein Weg – andere mögen ihn kreuzen – oder ein Stück weit mit dir zusammen gehen – dann bist du wieder allein – keiner hat genau den gleichen Weg wie du – wann hat dieses Sterben begonnen – bei der Geburt – oder schon vorher – oder erst in der Kindheit – wann ist dir endgültig der Boden unter den Füßen weggezogen worden – oder ist dies einfach die Grundsituation der menschlichen Existenz – die andere nur verleugnen – kann man diesem Sterben im Leben entfliehen, indem man wirklich stirbt – oder indem man sich tötet – seinen Körper – oder auch seine Seele – ist der Tod die Therapie für das Leben – kann man nur durch den Tod dem Sterben entgehen – Welt antworte – du fragst – oder Gott gib Antwort – wenn es dich gibt – du bin schon wieder weiter gefallen – der Fallwind saust dir durch die Ohren – wie kann ein einziger Mensch so viel Traurigkeit fühlen – es würde für die ganze Menschheit reichen – adieu – du fällst weiter – auf Wiedersehen – du stirbst weiter – adios – es zieht dich nach unten – immer weiter - sterbwärts




2  Wer Weihnachten Ostereier sucht, der ...     (05.07.2023)
Ein Sprachspiel mit paradoxen Urteilen und Vorurteilen


Wer Weihnachten Ostereier sucht, der liebt auch seinen Urgroßvater – wer seinen Urgroßvater liebt, der küsst auch die Schnauze eines Terriers – wer die Schnauze eines Terriers küsst, der geht auch zum Kegeln – wer zum Kegeln geht,  der hat auch eine Figur wie ein Kegel – wer eine Figur wie ein Kegel hat, der besucht auch sonntags die Kirche – wer sonntags die Kirche besucht, der würde auch gerne die Kollekte klauen – wer gerne die Kollekte klauen würde, der bekommt die Maul- und Klauenseuche – wer die Maul- und Klauenseuche bekommt, der wird Politiker – wer Politiker wird, der träumt von der Defloration einer Jungfrau – wer von der Defloration einer Jungfrau träumt, der ist ein Saubermann – wer ein Saubermann ist, der heiratet eine Sauberfrau – wer eine Sauberfrau heiratet, der ist katholisch – wer katholisch ist, der ist auch evangelisch – wer evangelisch ist, der hat auch Mundgeruch –  wer Mundgeruch hat, der hat auch Fußpilz – wer Fußpilz hat, der liest auch die „Bild-Zeitung“ – wer die „Bild-Zeitung“ liest, der liest auch den „Spiegel“ – wer den „Spiegel“ liest, der isst auch Spiegeleier – wer Spiegeleier isst, der ist auch ein Spiegelei – wer ein Spiegelei ist, der mag kein Rührei – wer kein Rührei mag, der ist Radfahrer – wer Radfahrer ist, der bezahlt seine Steuern nicht – wer seine Steuern nicht bezahlt, der wohnt in Bayern – wer in Bayern wohnt, der ist Deutscher – wer Deutscher ist, der ist Mensch – wer Mensch ist, der besitzt eine unsterbliche Seele – wer eine unsterblich Seele besitzt, der ist ein Teufel – wer ein Teufel ist, dem macht das Leben Spaß – wem das Leben Spaß macht, der hat einen Dachschaden – wer einen Dachschaden hat, der braucht für den Dachdecker nicht zu sorgen – wer für den Dachdecker nicht zu sorgen braucht, der besorgt es der Frau vom Dachdecker – wer es der Frau vom Dachdecker besorgt, der ist seine Sorgen los  –  wer seine Sorgen los ist, der ist auch seine Hosen los – wer eine Hosen los ist, der ist auch hosenlos – wer hosenlos ist, der ist auch hodenlos – wer hodenlos ist, der lügt auch bodenlos – wer bodenlos lügt, der geht auch gerne in die Oper –  wer gerne in die Oper geht, der sucht auch Weihnachten Ostereier.



1  Das Rad der Zeit  (03.07.2023)



Also sprach der Dorfälteste - Hallo Bürger - wir müssen die Zeit anhalten - sie rast vorwärts - immer weiter vorwärts - viel zu schnell - kaum versieht man sich - da ist schon wieder 1 Stunde 1 Tag 1 Woche 1 Monat 1 Jahr vorbei - Männer, Frauen - hört mir zu - so darf das nicht weitergehen - wie soll man denn so überhaupt zum Leben kommen? - ständig sitzt einem die Zeit im Nacken - ständig hört man ein bedrohliches Ticken - nie kann man sich mit voller Muße etwas hingeben - denn die Zeit jagt ständig weiter - und sie bringt uns immer näher an das Ende - sie bringt uns immer näher zum Tod.


Leute, es wird Zeit - dass wir uns gegen die Zeit wehren - lasst uns aufbrechen - das Rad der Zeit zu suchen - ich stelle einen Trupp von Freiwilligen zusammen - einen Trupp von Zeitjägern - wir werden es schon finden - das Zeitrad - und dann werden wir es festhalten - wir werden verhindern, dass es sich weiterdreht - dann ist die Diktatur der Zeit beendet - wir werden alle Zeit der Welt für uns haben.


Und sie brachen auf - eine Gruppe unerschrockener Männer - sie reisten nach Norden, Osten, Süden und Westen - aber nirgends konnten sie das Zeitrad finden - schließlich kamen sie wieder zu ihrem Ort zurück - von wo sie aufgebrochen waren – da ergriff der Dorfälteste wieder das Wort - Mitbürger - lasst uns nachdenken und diskutieren - wieso haben wir das Zeitrad nicht gefunden? - viele Gedanken und Meinungen wurden geäußert - es gibt kein Zeitrad - sagte einer - das Zeitrad ist unsichtbar - sagte eine andere - das Zeitrad ist im Himmel - sagte ein dritter - es gibt gar keine Zeit - die existiert nur in unserer Einbildung - das sagte der Dorf-Philosoph - aber es half auch nicht weiter - schließlich meinte eine fünfte - in jedem Ding und in jedem Lebewesen ist ein Zeitrad - aber das war ihnen zu hoffnungslos


Da sprach ich - Leute - ich hatte eine Vision - und zwar sah ich - was? - schrien die Leute - ich sah - dass das Zeitrad unser Mühlrad ist - das Rad unserer Ortsmühle - nur das müssen wir anhalten - zunächst tobten und lachten die Leute - aber dann sprach der Dorf-Philosoph - lasst es uns doch versuchen - probieren geht über studieren - und das ist eine verdammt merkwürdige Aussage für einen Philosophen.


Sie zogen also zur Mühle - aber so sehr sie sich auch bemühten - mit Muskelkraft schien das Rad der Zeit nicht anzuhalten sein - deshalb banden sie immer mehr Seile an das Rad - und da begann es tatsächlich langsamer zu laufen - plötzlich erkannte der Philosoph die Gefahr - Leute - schrie er - merkt Ihr nicht? - wir bewegen uns auch immer langsamer - wir dürfen das Zeitrad nicht anhalten - aber sie hörten nicht auf ihn - immer weiter beschwerten sie den Lauf des Rades.


Und plötzlich hielt das Zeitrad an - und die Welt und alles Leben auf ihr erstarrten in absoluter Bewegungslosigkeit.